Die vedische Schöpfungsgeschichte

Willkommen zu meinem philosophischen Exkurs „Die vedische Schöpfungsgeschichte“

Wir im westlichen Kulturkreis kennen ja einerseits die religiöse Schöpfungsgeschichte, wonach Gott Himmel und Erde erschaffen hat. Und andererseits kennen wir den wissenschaftlichen Ansatz mit dem Urknall, als in einer gigantischen Explosion aus der sogenannten Singularität, in der alles Eins war, plötzlich Raum, Zeit und Materie entstanden ist.

Da möchte ich jetzt eine weitere Schöpfungsgeschichte erzählen, und zwar die aus der vedischen Philosophie. Diese Schöpfungsgeschichte beginnt mit Pralaya, dem kosmischen Ei. In diesem Ei war noch alles Eins, alles gehörte zusammen. Man könnte sagen, dass Pralaya, das kosmische Ei, eine Singularität war.

Plötzlich entstand in diesem Ei eine Vibration, eine Schwingung. Das überall bekannte Om, das ja an sich nicht O-M ist, sondern A-U-M ausgesprochen wird. Aaa-uuu-mmm.

Diese Schwingung traf genau die Eigenfrequenz des kosmischen Eis und damit begann sich die Schwingung im kosmischen Ei immer mehr zu verstärken. Die Schwingung verstärkte sich so weit, bis das Ei platzte. Das ist der vedische Moment, in dem die Singularität in einem Urknall explodierte.

Daher hat die Ursilbe Om auch ihre tiefe Bedeutung in der vedischen Philosophie: Sie war es, die das Eine getrennt hat. Und sie hat auch die richtige Schwingungsfrequenz und damit die Macht alles wieder zusammenzuführen und zu einen.

In unserer westlichen und wissenschaftlichen Theorie ist die Singularität in die Konzepte des Raums, der Materie und der Zeit zerfallen.

In welche Konzepte – oder Prinzipien – ist denn nun Pralaya, das kosmische Ei, in der vedischen Philosophie zerfallen? Aus Pralaya sind Brahman und Maya hervorgegangen.

Brahman ist das Universum, alles, das Bewusstheit und Struktur gibt. Das ist Raum, das ist Zeit, das sind alle Naturgesetze. Brahman ist das Universum. Brahma, ohne n zum Wortende, ist einer der Hauptgötter im Hinduismus. Wir reden hier von Brahman, mit n zum Wortende, also dem Universum.

Und aus Pralaya ist neben Brahman noch Maya hervorgegangen. Maya bedeutet übersetzt so viel wie Illusion oder Täuschung. Maya ist alle Energie und alles Leben. Das bewusste Leben gaukelt dem Lebewesen ein „Ich“ vor – also ein Ego, auch im Sinne Carl Gustav Jungs – und mit diesem „Ich“ schafft es die Illusion, dass das Lebewesen getrennt von allem anderen ist.

Brahman, das Universum, steht also für Struktur und Ordnung. Maya, die Illusion, steht für Energie und Leben.

Brahman steht auch für das maskuline Prinzip, Maya für das feminine Prinzip. Hier sind bewusst die Wörter maskulin und feminin in Verwendung, um die Abgrenzung zu männlich und weiblich zu schaffen. Denn auch wenn sich alles hinter dem Begriff „männlich“ eher am maskulinen Prinzip orientiert, während alles das „weiblich“ sich eher am femininen Prinzip orientiert, so ist doch beides, sowohl männlich als auch weiblich, ein Aspekt des Lebens. Und Leben ist Maya. Männlich und weiblich sind also Ausdrucksformen von Maya.

Wofür genau steht Brahman, das maskuline Prinzip?

Brahman ist der Name in der vedischen Philosophie. Yang ist das Konzept aus der chinesischen Tradition, umfasst jedoch auch die männlichen Aspekte aus Maya. Und Shiva ist im Tantra der Begriff für das maskuline Grundprinzip.

Brahman steht für …

– Reines Bewusstsein
– Struktur und Rahmen
– Handlung und Abschluss
– Wettbewerb und Kampf
– Ideen und Impulse

Und wofür steht Maya, das feminine Prinzip?

Maya ist der Name in der vedischen Philosophie. Yin ist das Konzept aus der chinesischen Tradition, umfasst jedoch eher nur die weiblichen Aspekte. Und Shakti ist im Tantra der Begriff für das feminine Grundprinzip.

Maya steht für …

– Energie und Leben
– Veränderung und Transformation
– Schöpfung und Kreation
– Spielen und Hingeben
– Liebe und Heilen

Maya ist also Leben. Und was ist Leben?

Als Leben bezeichnet man eine „Prozessform“, die alle Lebewesen gemeinsam von lebloser Materie unterscheidet. Diese Prozessform umfasst Dinge wie Reaktion auf Veränderungen, Wechselwirkung mit der Umwelt, eine Art der Organisiertheit und Selbstregulation. Sie umfasst auch Reproduktion und Vererbung und damit Entwicklung und Wachstum.

Maya ist Leben und Leben ist Veränderung. Ja, unser Körper verändert sich laufend. Unser kognitiver Geist – also die Denkmaschine Gehirn – verändert sich, indem wir leicht und schnell lernen, uns anpassen und zum Glück auch wieder vergessen. Unser Verhalten verändert sich ständig.

Das „Ich-Bewusstsein“ jedoch bleibt unverändert gleich! Auch wenn sich deine Art zu denken mit deinem Wissen und deiner Erfahrung verändert: Das Ich in deinen Gedanken ist das gleiche Ich, das du schon als vierjähriges Kind gewesen bist. Bewusstsein ist unveränderlich.

Dann lasst uns doch mal dieses „Ich“ philosophisch abgrenzen um mit der Abgrenzung gleich mal die Illusion Maya angreifen. Die Illusion angreifen, dass „Ich“ etwas Eigenes bin, getrennt von allem anderen.

Wer oder was also bin ich? Ich bin ich, weil ich nicht du bin. Ich bin ich, weil ich nicht dieser Stuhl bin, nicht dieser Wassertropfen am andern Ende der Welt bin und nicht dieses Sandkorn am anderen Ende des Weltalls bin. Ich bin ich, weil ich nicht alles andere bin.

Ich bin ich, weil ich nicht alles andere bin. Ich bin ich, weil ich niemals irgendwas anderes war und nicht irgendwann mal irgendwas anderes sein werde. Ganz egal was war und ganz egal was kommen mag.

Ich bin somit untrennbar mit allem anderen zu aller Zeit gekoppelt, auch mit allem das schon längste gegangen ist und allem, das noch gar nicht ist.

Und alles andere zu aller Zeit ist somit untrennbar mit mir gekoppelt.

Sonst wäre ich nicht ich.

Noch mal kurz zurück zum Leben, dieser Prozessform, die Lebewesen von toter Materie unterscheidet. Beim Akt der Fortpflanzung geben wir diesen Lebensprozess weiter an eine Zelle, aus der sich die nächste Lebensform entwickelt. Für Menschen – und vielleicht einige oder sogar alle Tierarten? – schafft das in der weiteren Entwicklung ein neues Ich-Bewusstsein.

Mit dem Akt der Fortpflanzung geben wir also den Lebensprozess weiter.

Nur mal so gefragt: Wann hat denn wohl ein Stück unbelebte Materie den ersten Lebensprozess geschaffen? Wie oft ist das wohl geschehen, bis der Lebensprozess geschafft hat, sich fortzupflanzen? Und wie kommt aus diesem Lebensprozess für genügend komplexe Lebensformen dann das Ich-Bewusstsein?

Du mit deiner Selbstwahrnehmung bist also das Ergebnis eines komplexen Lebensprozesses und über diesen Lebensprozess untrennbar mit allem anderen zu aller Zeit verbunden. Wirst du wohl davon träumen, wenn heute Nacht im Schlaf dein Ich-Bewusstsein in andere Realitäten entschwindet?

Die Ursilbe Om soll die Macht haben, alles wieder zu vereinen. Wir brauchen das alles nicht zu verstehen, auch wenn es hilft, es zu verstehen. Wir brauchen letztendlich nur anzunehmen, dass Brahman und Maya für jeden von uns eine Mission und eine Bestimmung im Leben vorgesehen haben.

Om ist die Ursilbe und wird die letzte Schwingung sein, wenn mal wieder alles vereint ist. Also mach mit beim Mantra chanten: Aaa-uuu-mmm.