Selbstlüge, Wirklichkeitsflucht und Missbrauch

Selbstlüge, Wirklichkeitsflucht und Missbrauch

Jeder Mensch besitzt ein Selbstbild und ein Fremdbild. Nicht immer stimmen diese miteinander überein und von der überprüfbaren Realität können sie sich stark unterscheiden. Wenn sich zwischen diesen drei Dingen – Selbstbild, Fremdbild und überprüfbarer Realität – zu große Klüfte auftun, ist es notwendig, das eigene Weltbild zu verzerren. Selbstlüge und Wirklichkeitsflucht sind die Methoden. Ganz einfach: Um ein Kontinuum aufrechtzuerhalten, um das Weltbild irgendwie am Leben zu erhalten.

Begrifflichkeiten und Definitionen

Aber bevor wir in eine Diskussion des Themas starten zunächst eine Definition der Begrifflichkeiten, um sicherzustellen, dass wir von den gleichen Dingen reden.

Selbstbild: Das Selbstbild bezeichnet in der Psychologie die Vorstellung, die jemand von sich selbst macht. Der Begriff des Selbstbildes bezieht auch psychische und stimmungsmäßige Aspekte mit ein und unterliegt stärkeren Wandlungen und Schwankungen. Das Selbstbild beruht auf Selbstwahrnehmung. Selbstwahrnehmung oder Eigenwahrnehmung ist die Wahrnehmung der eigenen Person und für die eigene Bewusstseinsbildung und das Selbstbewusstsein unentbehrlich.

Fremdbild: Das Fremdbild ist das Bild, das sich andere über eine Person machen. Es ist damit die Gesamtheit aller Wahrnehmungen, Gefühle und Bewertungen, die Dritte von einem Individuum haben. Diese Wahrnehmungen werden automatisch verknüpft mit früheren Erfahrungen der zu beobachtenden Person und mit den aus dieser Verknüpfung entstehenden Gefühlen und Bewertungen.

Realität: Als Realität wird im allgemeinen Sprachgebrauch die Gesamtheit des Realen bezeichnet. Als real wird zum einen etwas bezeichnet, das keine Illusion ist und nicht von den Wünschen oder Überzeugungen einer einzelnen Person abhängig ist. Zum anderen ist real vor allem etwas, das in Wahrheit so ist, wie es erscheint. Realität ist in diesem Sinne somit dasjenige, dem Bestimmtheit zugeschrieben werden kann.

Wirklichkeitsflucht: Wirklichkeitsflucht, auch Realitätsflucht oder Eskapismus, bezeichnet die Flucht aus oder vor der realen Welt und das Meiden derselben mit ihren Anforderungen zugunsten einer Scheinwirklichkeit, d. h. imaginären oder möglichen besseren Wirklichkeit. Der Begriff wird in der Psychologie sowie der Bildungssprache üblicherweise negativ gesehen. Eskapismus wird als eine Fluchthaltung oder Ausbruchshaltung, als bewusste oder unbewusste Verweigerung gesellschaftlicher Zielsetzungen und Handlungsvorstellungen verstanden.

Selbstlüge: In der Selbstlüge sind wir zugleich Lügner und Belogener in einer Person. Aus der umgebenden Realität werden Fakten wahrgenommen, die das Selbstbild und das eigene Modell der Welt bedrohen. Diese Fakten können so nicht bleiben, sondern müssen verzerrt oder verdrängt werden, und den Status quo des Weltbildes aufrechtzuerhalten. Diese Selbsttäuschung wird Selbstlüge genannt.

Verdrängung: Als Verdrängung wird in der Psychoanalyse ein angenommener psychologischer Abwehrmechanismus bezeichnet, durch den tabuierte oder bedrohliche Sachverhalte oder Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen würden. Es werden Fakten wahrgenommen, als bedrohlich eingestuft und vom bewussten Zugriff ausgeschlossen. Das geht so weit, dass z.B. E-Mails nicht nur vergessen, sondern aus Versehen aktiv gelöscht werden.

Missbrauch: Üblicherweise wird der Missbrauch von Menschen in die Kategorien körperlich, emotional/seelisch, sexuell und manchmal auch energetisch eingeteilt. Energetischer Missbrauch ist es, wenn der Missbrauch zu subtil für direkte emotionale Antwort, aber dafür dauerhaft oder über lange Zeiträume passiert.

Missbrauch und das Weitergeben von Missbrauch durch Selbstlüge

Nachdem jetzt Begrifflichkeiten für die Verwendung hier definiert sind, schauen wir uns doch Szenarien an, anhand derer wir dann Schlüsse ziehen können.

Szenario 1: Sexueller Missbrauch

Ein reales Szenario: Eine Frau wurde als kleines Kind sexuell missbraucht. Aus dem daraus resultierenden Trauma und des völligen Verdrängens des Missbrauchs hat die Frau viele Probleme im Laufe ihres Lebens, bis hin zu Autoaggressionsschüben die durchaus auch ihre Gesundheit bedrohen können.

Um ihre Probleme in den Griff zu bekommen, unternimmt sie verschiedenste persönlichkeitsbildende Maßnahmen, die allesamt im Sande verlaufen.

So sind in einem Skriptum eines Kurses, an dem sie teilgenommen hat, typische Symptome nach sexuellem Missbrauch gelistet, die sehr gut auf sie zutreffen. Und doch, obwohl sie motiviert ist ihre Situation zu ändern, schafft sie es nicht sinnerfassend diese Symptome zu lesen. Es ist bedrohliche Information, und sie wird gelöscht.

Als sie andere Kursteilnehmer gefragt haben, was sie zu diesen Symptomen sagt, die so erschreckend genau ihre sind, hat sie es geschafft keine Antwort zu geben und noch am selben Nachmittag ihr Skriptum zu verlieren.

Das Wissen um den Missbrauch ist immer wieder mal bis ins Halbbewusste vorgedrungen und sie hat es auch anderen gegenüber, mir inklusive, ausgesprochen. Es folgte danach direkt angewandte Selbsttäuschung: Man kann das ja so nicht sagen, so nicht sehen. Es war ja ein anderer Kontext, eine andere Zeit, man muss das schon richtig verstehen. Und jetzt ist nicht die zeit dafür.

Ihre zwei Söhne waren die ewig Leidtragenden, da die Mutter schlicht nicht als verlässlich wahrgenommen wurde. Noch als Kinder konnten sie sich nicht auf die Mutter verlassen, da diese zu oft in ihren Problemen untergegangen ist. Für kurze Zeit nur, aber wiederholt. Das Vertrauen der Kinder war zerstört. Und nun geben diese erwachsenen Kinder genau dieses antrainierte und abgeschaute Verhalten an ihre Kinder weiter.

Manchmal ist es eine gute Sache sich eigene Erkenntnisse einfach aufzuschreiben. Dann ist es verfügbar, wenn es schon wieder vergessen ist. Und dann bedarf es einer aktiven Selbstlüge, um dies Niederschrift loszuwerden. Was von Mal zu Mal schwieriger wird.

Szenario 2: Seelischer Missbrauch

Auch das zweite Szenario ist real. Eine Frau ist wiederholtes Opfer von Gaslighting und anderen Misshandlungen psychischer Natur durch ihren Mann. Da sie dies schon aus der Kindheit kennt, ist dies für sie ganz normal und sie hat gut trainierte Verdrängungsmechanismen: Zunächst dissoziiert sie, steigt also aus dem emotionalen Erleben weitgehend aus. Und dann gibt sich selbst die Schuld, verändert ihre Wahrnehmung – verknüpfte Dinge wegwerfen, Nachrichten löschen, … – und redet sich und eventuell Beteiligten die Dinge schön.

So redet sie sich ein, dass die Beziehung zu ihrem Mann gut ist. Nicht immer ganz einfach, aber gut und von der nötigen Wertschätzung und Liebe getragen. Tatsächlich ist er nur selten daheim und kümmert sich nur um ihre Bedürfnisse, wenn Auswirkung gegeben ist, und er dafür bewundert wird. Und er hat keine nur intern wahrnehmbare Wertschätzung seiner Familie gegenüber. Worunter alle nachhaltig leiden.

Eine klassische unspezifische Störung aus dem Bereich der Empathiestörungen (Narzissmus, Psychopathie, Soziopathie, Macchiavellismus, etc.).

Es ist an sich ihre Sache, was sie sich gefallen lässt. Allerdings schlägt der verdrängte seelische Missbrauch mit Dissoziation und emotionaler Instabilität auf die Kinder durch. Die ausgebildete Pädagogin ist vollkommen unfähig einen Zusammenhang herzustellen zwischen diesem Verhalten das ihr und wohl auch den Kindern widerfährt. Eines von mehreren Beispielen ist das Ignorieren des Umstandes, dass die Tochter mit sechs Jahren noch ins Bett genässt hat. Alles Mögliche ist verdächtig, nur die Beziehung der Eltern zueinander und das wertverletzende Verhalten steht außer Diskussion.

Damit macht sich die Mutter zum Teil des Systems des Missbrauchs, indem sie an ihrer Selbstlüge festhält. Und wird vom Opfer zur Mittäterin. Ganz wie im ersten Beispiel: Mutter zu sein heißt Verantwortung zu übernehmen, nicht nur die körperliche Versorgung sicherzustellen. Und Verantwortung ist manchmal ein Stück außerhalb der Komfortzone, ein Stück weg von der harmonischen Mitte.

Szenario 3: Körperlicher Missbrauch

Und noch eine reale Geschichte: Ein junger Mann wurde in seiner Kindheit und im Teenager-Alter von seinem überehrgeizigen Vater ganz massiv in eine Profi-Sportkarriere gedrängt. Das ganze Jahr über hartes körperliches Training gegen den Willen eines Kindes ist körperlicher Missbrauch.

Nachdem sich Verletzungen häuften und nach einer sehr schweren Knieverletzung das aus der Sportkarriere gekommen ist, ist der dann junge Mann in ein tiefes Loch gestürzt.

Obwohl er stark zugenommen hat, absolut problematischen Alkoholkonsum zeigt und von vielen Seiten Warnungen ausgesprochen bekommt, hat er all diese Symptome plus weitere deutliche Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung völlig von sich weggeschoben.

Es ist ja alles normal. Jeder vermeidet Belastung oder Stress, jeder trinkt gerne mal ein bisschen Alkohol. Alle nehmen zu, wenn sie vorher viel Sport machen, und nach den Schicksalsschlägen der Verletzungen es nicht mehr können.

Hat ihn jemand ganz direkt darauf angesprochen, die Dinge beim psychologischen Namen genannt, so hat er geschafft das Gespräch völlig zu vergessen, also seinen bewussten Zugriff auf das Erlebte zu unterbinden.

Der Gute verbringt viel Zeit damit sich selbst zu täuschen, und wenn es zu viel Kopfarbeit ist, dann sucht er in der Vernebelung durch Alkohol das Vergessen.

Selbstlüge und Wirklichkeitsflucht

Etwas vor sich selbst zu leugnen ist ein sehr schlimmer Missbrauch an sich selbst. Vermutlich ist es eine Folge eines anders erfahrenen Missbrauchs.

Je besser, also je öfter, eine solche Verleugnungsstrategie geübt wird, umso schwieriger wird es, diesem Mechanismus auf die Schliche zu kommen.

Wenn dir also je wer sage sollte, dass du dir etwas wiederholt schön lügst, dann sei dankbar. Schreib es auf. Hol dir externe Unterstützung um supervisorisch zu evaluieren, ob da tatsächlich Selbstlüge und Wirklichkeitsflucht vorliegen.

Und wenn nur der kleinste Verdacht da ist, dass etwas dran sein könnte an den Verdachtsmomenten dann hol dir therapeutische Unterstützung. Wenn du Kinder hast hol dir auch für die Kinder Unterstützung.

Eigenverantwortung und Verantwortung für Schutzbefohlene ist keine Option, ist nichts, das man weglügen darf. Sonst wird das Opfer zum Teil des Systems des Missbrauchs und damit selbst Täter, der den Missbrauch weitergibt.

Dabei sei eingeräumt, dass es unendlich schwer sein kann, sich selbst seine Rolle einzugestehen. Sich klarzumachen, dass man sich im Lauf der Jahre der Wirklichkeitsflucht selbst zum Teil des Systems gemacht hat, vor dem man ja flüchten möchte. Dass man auf diese Art oft Missbrauch auf verschiedenen Ebenen zugelassen oder weitergegeben hat. Nicht mit böser Absicht, aber dennoch Missbrauch.

Sich einzugestehen, dass da was ist, dass da Handlungsbedarf ist, ist der wichtigste Schritt. Aufschreiben, um es sich nicht selbst zu einfach zu machen, es wieder von sich selbst wegzuschieben. Und dann externe Hilfe suchen.